Freitod in Wittenberge (kein schönes Ding)



















Es ist gut 3 Wochen her, da titelte das Zeit Magazin: "Was läuft in Wittenberge?" Es ging um eine groß angelegte Sozialstudie, ähnlich der des Klassikers der Sozialforschung schlechthin "Die Arbeitslosen von Marienthal". Vor einigen Jahren selbst gelesen, im Rahmen des Soziologie-Studiums, und als spannend befunden. Wittenberge allerdings war mir bis zu dem Zeit-Artikel ein unbekannter Ort, der, wie ich nun ganz genau weiß, zwischen Hamburg und Berlin im Bundesland Brandenburg liegt. Der ICE braust mit ca. 200 km/h mehrmals täglich an Wittenberge vorbei. Von den meisten Zuggästen auf dieser Strecke, inklusive mir, geschieht das weitgehend unbemerkt. Nach einem Zwischenfall am vergangenen Samstag wird sich das vielleicht ändern. Einige hundert Meter nach dem Bahnhof Wittenberge bremste unser ICE scharf ab. Es dauerte etwas, bis er zum Stehen kam. Was los war in Wittenberge? Ein Suizid.
Die Geister scheiden sich beim Thema Suizid und im Speziellen beim Schienensuizid. Rational betrachtet lässt sich nüchtern bilanzieren: es ist eine recht sichere Angelegenheit für den Lebensmüden - ein ICE mit knapp 200 km/h Fahrt lässt nicht viel übrig und bewahrt ziemlich sicher vor dem Überleben (mit etwaigen körperlichen und/oder geistigen Behinderungen). Für die Zuggäste ist es in erster Linie nervig, da sich "die Weiterfahrt um unbestimmte Zeit verzögern" wird. Die Einsatzkräfte haben im wahrsten Sinne alle Hände voll zu tun und der Lokführer erleidet einen schlimmen Schock. Es muss fürchterlich sein, einen Menschen auf den Schienen zu sehen, der einen womöglich noch anschaut, regungslos, vielleicht auf den Schienen liegend - man selbst erfährt es ja ein paar Wagons weiter zum Glück nicht. Und der Anblick, den die Rettungskräfte anschließend zu Gesicht bekommen, ist ebenso unschön. Mich persönlich hat das Ereignis nachdenklich gemacht und ich erinnerte mich unweigerlich an die Zeit-Geschichte. War es ein Arbeitsloser, ein einsamer, alter Mensch oder ein junger ohne jegliche Perspektive? Wird ihn jemand vermissen und wenn, wie werden diese Menschen damit umgehen? Hatten die Forscher ihn oder sie vielleicht sogar vor Monaten interviewt?

Die Stadt Wittenberge war einst von recht großer wirtschaftlicher Relevanz, stand hier seit Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 1980iger Jahre das modernste Nähmaschinenwerk der Welt. Aus dem industriellen Knotenpunkt des Ostens mit einigen Großbetrieben wurde nach der Wende eine deindustrialisierte Stadt - drei dieser vier Betriebe wurden geschlossen, 8000 Menschen verloren ihre Arbeit. Eine Massenabwanderung war die Folge, die Stadt verwaiste zusehends. Kein Einzelfall im Osten, vielmehr scheinbar ein exemplarischer, der sich gut dazu eignete, Sozialstudie zu betreiben. Arbeitslosigkeit ist ein Problem, aber die Kernfamilien funktionieren - so zwei der Ergebnisse der Untersuchung. Ob die Gründe für den Suizid von vergangenem Samstag mit diesen Ergebnissen "korrelieren", wie der Sozialforscher Zusammenhänge zwischen mindestens zwei Variablen bezeichnet? Man weiß es nicht und wird es auch nicht erfahren. Ein anonymes Schicksal in einer unbekannten Stadt. Nicht ungewöhnlich, aber dadurch nicht weniger tragisch.


Mehr auf zeit.de: http://www.zeit.de/2010/10/Forschungsprojekt-Wittenberge?page=2

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